Ich fotografiere Menschen mit Demenz. Man fragt immer wieder, was meine Motivation ist, wieso ich mir das antue. Ich habe nie etwas Schöneres und Wichtigeres getan, antworte ich. Nirgends sonst lernte und lerne ich mehr über die Geheimnisse des Denkens, über die Macht der Erinnerungen, das Wesen des Menschen und damit auch über mich selbst.

 Die Fotografie ist mein Fenster zum Leben. Ich erinnere Gesichter und Orte über ihre Bilder, beim Betrachten erwachen sie zum Leben. Über 150 Jahre lang symbolisierte die Fotografie das dauerhafte Festhalten von Erlebtem, jenen magischen Prozess, die Zeit einzufrieren und beim Betrachten wie in einem Zeittunnel Erinnerungen wach zu rufen. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit der Technik in Form winziger Kameras und Handys hat jedoch zu einer sintflutartigen Verbreitung des Mediums und einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des einzelnen Bildes geführt. Der Zauber der Fotografie geht immer mehr verloren.

Was hat dies alles mit Demenz zu tun? Vielleicht mehr als wir ahnen. Milliarden digitaler Fotos wandern täglich unzureichend beschriftet auf Millionen von Festplatten oder versickern in Onlineplattformen wie flickr. Gigantische Datenspeicher enthalten das digitalisierte Wissen unserer Zeit. Die größten Herausforderungen sehen Forscher inzwischen in der Zugänglichkeit relevanter Daten und ihrer Erhaltung für künftige Generationen. Bereits nach wenigen Jahren sind technische Speichermedien überholt und können nicht mehr ausgelesen werden, mangelnde Systematik bei der Archivierung von Daten unzähliger Quellen im Internet führt dazu, dass ein Großteil davon nie mehr auffindbar ist – wie in einem riesigen Gehirn, das nicht mehr weiß, wo die Erinnerungen an gestern sind. Die Wissenschaftler sprechen vom „digitalen Alzheimer“.

 Auch wir sind einer nie zuvor erlebten Fülle von Eindrücken und Einflüssen in immer kürzeren Intervallen ausgesetzt, die unser Geist nur noch mit Mühe zu bewältigen scheint. Der Filmemacher Rick Mannich versuchte in einer sehr persönlichen Dokumentation zu ergründen, wieso seinen Vater eine Woche nach einem harmlosen Unfall eine irreversible Amnesie befiel, ein völliger Gedächtnisverlust, und er daraufhin weit entfernt mit einer neuen Frau ein neues Leben begann. „Ich bin der neue Richard,“ sagte er eines Tages zu seinem Sohn. „Nicht der Mann, den Du Dad nennst.“ Eine Frage beschäftigt den vergessenen Sohn dabei mehr als alles andere: hat der Geist seines Vaters angesichts nicht mehr zu bewältigender Anforderungen des Alltags die Notbremse gezogen und – um im digitalen Bilde zu bleiben – einen kompletten Neustart absolviert?

 Ideen wie diese, so weit entfernt vom Thema sie zunächst auch zu sein scheinen, beschäftigen mich heute immer mehr im Rahmen meines Langzeitfotoprojektes, an dem ich seit Ende 2005 arbeite und das heute den Hauptteil meiner Zeit einnimmt. Ich sehe deutliche Parallelen zwischen unserer gesellschaftlichen Beschleunigung und der Zunahme von Demenz, die Parallelen zur Fotografie als schwindendes Medium der Erinnerung sind verblüffend.

Ungewöhnliche Gedanken zu denken muss möglich sein in Zusammenhang mit diesem verstandesmäßig bisher nicht zu greifenden Phänomen. Die gängigen Denkkonzepte haben hier bisher aus meiner Sicht versagt. Trotz intensiver Suche ist es den Forschern noch nicht im Ansatz gelungen, schlüssige Erklärungen für die Ursachen von Alzheimer & Co zu finden. Sie suchen nach passenden Schubladen und Etiketten, doch die Realität verweigert sich diesem verkopften Ansatz. Demenz ist keine Grippeinfektion mit vorhersagbarem Verlauf – jeder Betroffene durchlebt diese Veränderungen auf seine persönliche Art und Weise, viele von ihnen ohne das reflexartig unterstellte Leiden. Sieht man genau hin, erkennt man, dass es so viele Formen von Demenz gibt wie Betroffene. Und jede ihrer Sichtweisen ist die Wahrheit.

 Ich bezweifle, dass der menschliche Geist in der Lage ist, seine eigenen großen Rätsel zu entschlüsseln. Das Herz allein bietet die Antworten: den anderen anzunehmen, wie er ist, auch wenn er nicht mehr der zu sein scheint, den man kannte und bewunderte; ihn trotz allen Schmerzes und des langsamen Abschieds des Vertrauten neu zu entdecken; ihn bedingungslos mit dem Herzen anzunehmen, also zu lieben. Der wahre Kern der Persönlichkeit kann auch im Fortschreiten der Demenz niemals verloren gehen. Eine Verbindung zweier Herzen ist unzerstörbar.

 Das Phänomen Demenz hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor und legt ihre Defizite offen dar. Wir müssen nur die Augen öffnen und erkennen. Die einfachen Grundregeln für einen verantwortungs- und respektvollen Umgang mit Menschen mit Demenz, wie etwa Nähe, Toleranz, Geduld und bedingungsloses Annehmen der Persönlichkeit des anderen s– sollten diese nicht für jeden von uns gelten? Wäre unser Leben dann nicht sehr viel bunter und erfüllter? Die Menschen mit Demenz gehen uns voran, sie sind unsere stillen Lehrmeister.